Wetter

Munku Sardyk - Wallfahrt zum Gipfel im Mai

von Pawel Worobjow

Über die Maifeiertage gab es im Ostsajan immer eine Art Touristenwallfahrt. So war es schon seit erdenklichen Zeiten. In den 80er Jahren war es ganz und gar nicht einfach, dorthin zu gelangen, dennoch waren 200 Personen keine Seltenheit. Seit dem Bau der Autostraße bis nach Samarta 1992-93 (die Goldsucher haben Druck gemacht) kommt man sogar mit dem PKW bis zur Gabelung des Weißen und Schwarzen Irkut. Daher war es auch nicht verwunderlich, dass im Mai '99 über 500 Personen in dieses Gebiet unterwegs waren, mit 170 Autos.

Unsere alten Freunde, ich nenne sie einfach Oleg und Natascha, haben kein eigenes Auto und waren deshalb froh über meinen Vorschlag, sie mitzunehmen. Nach kurzer Vorbereitung hatten ich, meine Frau und mein jüngerer Bruder Max nicht nur für uns, sondern auch für Oleg und Natascha die ganze Ausrüstung vorbereitet. Zu unserer Gruppe kam noch die Familie von Marina und Nikolai dazu.

Endlich verlässt am 1. Mai eine Karawane aus drei Autos Irkutsk. In der Nähe der Ortschaft "Smolenschtschina" sahen wir die Folgen eines schrecklichen Autounfalls. Ein Wolga fuhr in einen mit Mist beladenen GAS LKW. Infolge des Zusammenstoßes rutschte der Wolga ganz unter den Laster. Wie wir später erfuhren, kamen der Fahrer und der Fahrgast des Wolga um. Der LKW-Fahrer hatte dem Wolga nicht einmal ausweichen können, indem er auf den Straßenrand fuhr. Klar, dass ein solcher Anblick unsere Laune etwas trübte, nichtsdestotrotz kamen wir gut in Kultuk an.

Das herrliche Wetter, der Ausblick auf den Baikal vom Aussichtspunkt, Bier und frisch geräucherter Fisch taten das Ihre. Die Stimmung unserer Truppe aus 7 Erwachsenen und 5 Kindern verbesserte sich merklich.

Der nächste Halt - die Tankstelle im Ort Kyren. Die über so viele Autos aus der Stadt verwunderte Angestellte der Tankstelle interessiert sich für das Ziel unserer Reise. Da ist auch schon Mondy. Ein bewaffneter Grenzer hält uns an. Es zeigt sich, dass es bis zur Grenze weniger als 10 km sind. Es muss ein Passierschein (Propusk) für die Grenzregion ausgestellt werden. Es stellt sich heraus, dass der Passierschein direkt hier vor Ort von einem sehr freundlichen Oberstleutnant ausgestellt wird. Mit Grauen denken wir an alte Sowjetzeiten . Damals kam das Ausstellen eines Passierscheines für Mondy dem Beantragen eines Reisepasses gleich. Der Grenzer spricht persönlich mit dem Leiter jeder Gruppe und registriert akkurat alle, die in die Grenzzone fahren. Wie sich später herausstellte, hat das seinen Grund.

Den Gipfel vor Augen!

An der Brücke über den Bugubek ist der Verkehrsposten des Oka-Rajons. Halbbetrunkene Polizisten kontrollieren die Passierscheine und halten Vorträge über Verkehrsregeln. Wie sich herausstellt, muss man an ihrem Posten vor dem Anhalten UNBEDINGT rechts blinken. Wer versucht etwas zu beweisen oder mit ihnen zu diskutieren wird bestraft.

Wie sich zeigt, muss man ihnen nur Recht geben und sie lassen dich in Frieden ziehen und wünschen die Gute Reise. Nur 500 Meter weiter schlagen wir am Ufer des Weißen Irkut unser Lager auf. Viele uns bekannte Touristen und Bergsteiger haben sich hier schon eingerichtet. Einige lassen hier die Autos stehen und gehen zu Fuß über das Eis des Flusses aufwärts. Natürlich richten die Leute mit Kindern sich neben dem Auto ein.

Wir haben Holz für drei Tage gemacht, Zelte aufgestellt, einen improvisierten Tisch gebaut, der lange Weg liegt hinter uns, die Ausrüstung für Morgen liegt bereit. Zeit zu trinken und zu essen. Abends macht im Zeltlager die Nachricht die Runde, dass auf dem Berg ein Toter liegt. Diese Neuigkeit ändert unsere Stimmung und unser Verhalten etwas. Trotzdem holt Oleg die Gitarre heraus, und nach einigen Liedern und etwas aufgeregt wegen des bevorstehenden Aufstiegs zu Munku Sardyk (3495m) schlafen wir ein.

Der Morgen jenes schlimmen Tages ist da (2.Mai 1999). Ich und Max nehmen die Skier mit, Oleg ist ohne Gepäck. Um 7.30 Uhr verlassen wir das Basislager. Das Wetter lässt, mild ausgedrückt, zu wünschen übrig. Unser Aufstiegstempo auf dem Fluss Weißer Irkut bis zur Gabelung ist nicht besonders gut. Die Lebensweise der letzten Jahre wird spürbar: Haus – Auto – Arbeit.

Trotzdem haben wir es innerhalb etwa einer Stunde bis zur Gabelung geschafft. Max und ich lassen die Skier hier (es hat keinen Sinn, sie weiter zu schleppen), legen Steigeisen an und beginnen über das Eis des Flusses Mugubek auf den Gipfel aufzusteigen. Der Anstieg ist ziemlich steil, und Max, der von uns allen am besten trainiert ist, "schleppt" mich je Aufstiegsstunde ungefähr 10 Minuten. Oleg bleibt immer weiter zurück, Der Pfad ist gut zu erkennen (wenigstens 50 Leute sind hier schon entlang gekommen), es schneit, Windböen, es ist kalt. Die Bergrettung holt uns ein. Mit Spezialschlitten werden sie heute die Leiche dessen, der gestern aufgestiegen war, herunterholen.

Wir reißen Witze über das Wetter und den Treffpunkt: Viele habe ich über zehn Jahre lang nicht gesehen. Die Stimmung ist aufgeweckt, am Horizont hat sich der Eishang unterhalb des Gipfels gezeigt. Eine letzte Anstrengung und wir sind auf dem Gletscher. Als Max sieht, wie schwer Oleg das Gehen fällt. macht er ihm den Vorschlag nicht weiter zu gehen. Das versteht Oleg als Affront (Max ist 10 Jahre jünger als Oleg). Also, dann müssen wir eben was essen, wobei wir Oleg immer wieder Wurst, Gebäck, Käse und heißen Tee aus der Thermoskanne aufdrängen müssen. Schlechter Appetit ist ein untrügliches Zeichen für die Bergkrankheit. Oleg hat sich etwas erholt und erzählt wieder einen Witz.

Da bis jetzt keine Schwierigkeiten für den Aufstieg zu erkennen sind, legen wir die Steigeisen wieder an und beginnen den Aufstieg über einen sehr guten Pfad am Rande des Gletschers. Wir kommen am Ort des Gestrigen Unglückes vorbei: eine blutige Spur zieht sich auf den Firn von unterhalb des Gipfels und bricht an einem kleinen Felsvorsprung ab. Ein Albtraum.... An diesem 400 Meter hohen Hang hat sich eine Kette von Bergsteigern gebildet, ein Teil von ihnen ist schon wieder auf dem Abstieg.

Vor uns erscheinen Michail und Alexej (wie sich herausstellt, sind sie eine Stunde vor uns losgegangen). Zuerst haben sie versucht, als Seilschaft zu gehen, dann haben sie es sein gelassen und sind einzeln auf dem allgemeinen Pfad weitergegangen. So ist der Aufstieg einfach eine Pilgerwanderung auf den Berg, wo praktisch jeder sein eigenes Tempo geht, aber auf ein und demselben Weg. Links von uns auf dem kahlen Gletscher "pisst" einer allein dem Berg an die Stirn. Ein herrliches Solo.

Endlich bin ich auf dem Gipfel. Dort sitzen schon Michail und Alexej. Das Wetter ist scheußlich: Schnee, Wind. Wir warten auf Oleg. Ehrlich gesagt, ist es auf dem Gipfel zu viert ziemlich eng, und von untern kommt noch ein Haufen Leute. Also gut, steigen wir ab. Ich verlasse den Gipfel als Letzter. Genau 40 Meter tiefer treffe ich Oleg.

- Wie geht's dir, Oleg?
- Es geht.
- Brauchst du Hilfe?
- Nein, schaffe ich alleine.
- Sollen wir auf dich warten?
- Nein, braucht ihr nicht.
- Gut, wir warten unten, wo wir die Steigeisen angelegt haben, auf dich.
- OK.

(Wieder mussten wir ihm nachgeben).

Abstieg mit schlimmen Erwartungen

Das war gegen vier Uhr nachmittags, auf den Gipfel und bis hierher zurück würde Oleg vierzig Minuten, höchstens eine Stunde brauchen – wie sich dann zeigte, trafen wir ihn VIER TAGE SPÄTER wieder.

Von diesem Augenblick an erinnerte die Situation an einen schlechten Krimi. Ich steige gemächlich ab, vor mir geht, ebenfalls langsam, Michail. Wozu sollten wir uns beeilen – wir wollten sowieso auf Oleg warten. Wir kamen an den Platz, wo wir die Steigeisen angelegt und die Rucksäcke gelassen hatten. Max war es schon ziemlich kalt geworden, während er uns erwartete. Auf einmal fragt Michail:

- Wo ist Alexej?
- Wieso – wo? – antwortete ich.
- Ich habe ihn doch ganz am Anfang des Abstiegs überholt und gehe seitdem hinter dir.
- Komisch, ich war der Meinung, dass Alexej hinter mir geht. Das ist die erste Unstimmigkeit, es wird toller.

Ungefähr eine Stunde später werden uns die Bergsteiger sagen, dass sowohl beim Auf- als auch beim Abstieg (!) NIEMAND am Berg war. Aber Alexej und Oleg müssen doch dort sein. Eine kleine Panik und ...welch Glück! durch Nebel und Schnee sehen wir ZWEI Leute kommen. Auf die Frage „wieviel Leute kommen herunter“ antworteten sechs Augenpaare (außer meinen) : ZWEI. Es sind doch zwei Beinpaare zu sehen. Dann wird es wieder einsam, es bleiben nur ich und Michail, um zu warten. Irgendwie steigen die beiden (oder der eine) sonderbar langsam ab. Auf einmal sehen wir: es ist Alexej, der auf allen VIEREN im Dreiertakt kommt.

- Was ist los?, frage ich.
- Ich bin am Anfang des Abstiegs ausgerutscht, das Gehen tut weh.
- Wo ist Oleg?
- Den habe ich gar nicht gesehen.

Mir kam der kalte Schweiß. Auf dem Auf- und Abstiegspfad kann man sich nirgends ausweichen, es war unmöglich, dass Alexej Oleg nicht gesehen hatte. Das wars also... Ich lege schnell die Steigeisen wieder an und ab nach oben. Ein zweites Mal den Aufstieg von 400 m zu bewältigen, ist ziemlich schwierig, wenn nicht gar schwieriger. Michail hat Probleme mit dem Steigeisen. Ich bin allein auf dem Berg. Die Zeit: 8 Uhr abends, Schnee, Kälte, und ich brülle bis zur Heiserkeit auf dem Kamm, der Russland von der Mongolei trennt. "Oleg, wo bist du?" Keine Antwort.. Wir sind endgültig in der Klemme...

Ich steige ab. Nach einem letzten Blick auf den feindseligen Hang verlassen Michail und ich, schon in der Dämmerung, den verdammten Berg. Michail löste sich in der Dunkelheit allmählich auf. Plötzlich ist da eine Leuchtrakete. Die warten doch nicht etwa auf uns. Ich schmeiße den Rucksack hin und renne dorthin, wo die Rakete abgefeuert wurde. Ich sehe, dass sich am Waldrand in Haufen munterer Schüler herumtreibt, und sie wollen nichts von der Tragödie, die sich eben abgespielt hat, wissen. Wenigstens Tee habe ich bekommen...

Es ist schon Mitternacht, an der Flussgabelung des Mugubek steht Max. Ich erzähle ihm alles.

- Wir müssen die Bergrettung benachrichtigen.
- Wo sind die denn?
- Dort.

Max macht wie immer nicht viel Worte.

In der Dunkelheit finden wir ihr Lager. Es ist fast keiner da, sie haben den Toten von gestern in die Stadt gebracht. Ich lege noch einmal die Situation dar. Was soll’s, nichts zu machen. Morgen früh um sieben geht es los zur Rettungsaktion. Max hat sich noch in der Nacht nach unten auf den Weg gemacht, Ausrüstung holen. Ich habe keine Kraft dazu (scheint es). Ich gehe nach unten, wie soll ich Olegs Frau, Natascha, erklären, wo Oleg ist?

Noch ein Toter?

Da ist das Basislager. Alle Bekannten sind aufgeregt ... Noch ein Toter (so dachten manche). Natascha ist geschockt. Ich tröste sie, so gut es geht. Trotz seiner sehr pessimistischen Meinung (dass Oleg tot ist) half Andrej Snytko beim Zusammensuchen der Ausrüstung für die Rettungsarbeiten. Leider hat diese Meinung Andrejs unsere persönlichen Beziehungen zu ihm negativ belastet. Man hatte die Hoffnung, dass Leid vereint. In diesem Falle war es umgekehrt. Das wars. Es ist vier Uhr früh. Ich gehe schlafen. Ich setze keinen Fuß mehr in die Berge – niemals mehr. Mein Ruf ist jetzt ruiniert: Er hat ihn hingeführt und dann alleingelassen.

In der Nacht habe ich Albträume. Und auf einmal ein Schrei: "Oleg lebt, er ist in der Mongolei... die Grenzer sind gekommen..". Sechs Uhr morgens. Ich ziehe mich schnell an und renne ins obere Lager – in einer Stunde werden die Retter aufbrechen. Ich bin ganz in Schweiß gebadet angekommen – das Lager war leer. Bin ich zu spät? Sergej Swinarenko kommt, bis zu ihm sind es 50 Meter. Ich brülle los:

- Setz dich mit den Rettern in Verbindung, der Alarm ist aufgehoben!
- Jetzt mal eine Sekunde, sagt Sergej.

Das Herz zerspringt mir schier.
- Alles in Ordnung, komm her, ruft Sergej nach einer Weile.

Nun, Gott sei Dank: als ich zum Lager der Bergrettung komme, sehe ich sie verschlafen aus den Zelten kriechen. Sie haben verschlafen.

Ja, und dann warten wir vier Tage auf die Freilassung des "Flüchtlings". Ein Dankeschön an den Oberstleutnant, hat Oleg nicht nur von den Mongolen abgeholt, sondern hat ihn auch vor einem Staatsanwalt bewahrt, der ihm 3 Tage wegen Grenzverletzung aufbrummen wollte. Das war`s, ab nach Hause.

Pawel Worobjow
25. Dezember 2003
Quelle

 

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Artikel geändert:
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